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Hessisches Ministerium der Justiz und für den Rechtsstaat

Folge 2 - Die Rolle der Justiz nach dem 2. Weltkrieg

Im Gespräch mit Prof. Dr. Roman Poseck, Präsident des Staatsgerichtshof Hessen und des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, zum Thema "Die Rolle der Justiz in Hessen nach dem Ende des 2. Weltkrieges".

Adina Murrer
Hallo und herzlich willkommen zu unserem Podcast "Zeit für Justitia - der Justiz Talk aus Hessen". Mein Name ist Adina Murrer und ich wünsche uns eine spannende Sendung. In der zweiten Folge unseres Podcasts begrüße ich heute den Präsidenten des Staatsgerichtshofs und des Oberlandesgerichts Frankfurt Dr. Roman Poseck.

In diesem Jahr haben wir zum 75. Mal an den Tag der Befreiung erinnert. Mit dem 8. Mai verbinden wir historisch das Ende des Zweiten Weltkriegs. In der heutigen Folge wollen wir die hessische Justiz in die Nachkriegszeit einordnen.

Herr Dr. Poseck, wie blicken Sie als Vertreter der Justiz auf die Zeit nach 1945 zurück?

Dr. Roman Poseck
Als Vertreter der Justiz stelle ich mir natürlich vor allem auch die Frage: Was bedeutete der 8. Mai 1945 für unsere Gerichte? Auch da blicken wir auf die Zeit des Nationalsozialismus zunächst zurück. In der Nazizeit waren die Gerichte Unterstützer des Systems. Die meisten Richter waren willfährige Vollstrecker. Sie haben das nationalsozialistische System getragen. Es gab in der Justiz, das muss man sehr deutlich sagen, nur sehr wenig Widerstand. Es gab eine Reihe von Unrechtsurteilen, insbesondere wenn wir an die politische Strafjustiz zurückdenken. Da wurden Menschen massiv bestraft, zum Teil mit der Todesstrafe belegt, die sich kritisch über den Nationalsozialismus geäußert hatten, die Radio gehört hatten, die Informationen weitergegeben haben. Und das waren Urteile, für die die damalige Justiz auch verantwortlich war.

Adina Murrer
Welche Auswirkungen hatte das Ende des Krieges auf die Justiz, insbesondere auf die hessische Justiz? Und wie haben sich diese praktisch gezeigt?

Dr. Roman Poseck
Der 8. Mai 1945 war auch eine Initialzündung für einen neuen Rechtsstaat, für eine Chance zum Neuanfang in den Gerichten. Die ersten Schritte waren gerade in Hessen sehr stark durch die Amerikaner als Besatzungsmacht geprägt. In der Justiz war das dadurch spürbar, dass der frühere OLG-Präsident Arthur Ungewitter, der sich sehr stark auf die Nationalsozialisten eingelassen hatte, unmittelbar seines Amtes enthoben wurde. In Frankfurt beispielsweise waren schon am 29. März 1945 amerikanische Gesetze in Kraft. Die Amerikaner bestimmten Wilhelm Halbach zum Frankfurter Bürgermeister, und ihm wurde bereits im April 1945, also vor dem offiziellen Kriegsende, der Auftrag zum Neuaufbau der Frankfurter Justiz erteilt.

Für das Oberlandesgericht Frankfurt, für das ich natürlich auch persönlich stehe und spreche, ist dann vor allem der 8. März 1946 ein ganz wichtiges Datum, denn an diesem Tag wurde das OLG Frankfurt neu errichtet. Früher gab es in Hessen drei Oberlandesgerichte, in Darmstadt, in Kassel und in Frankfurt. Ab diesem Datum gab es dann nur noch das

Oberlandesgericht Frankfurt, allerdings bis zum heutigen Tag mit Außensenaten in Darmstadt und in Kassel. Der 8. März 1946, der wiederum ohne den 8.Mai 1945 nicht denkbar wäre, war der Neustart in eine neue Zeit in der Frankfurter Justiz. Georg-August Zinn war damals Justizminister und er hat großen Wert auf diesen Neubeginn gelegt und seine Erwartungen auch in der Ansprache anlässlich der Eröffnung sehr deutlich formuliert. Ich zitiere ihn: "Die Zeit, die vor uns liegt, und die Vergangenheit sind zwei Welten, zwischen denen es keine Verbindung, keine Brücke, keinen Kompromiss gibt." Nach dem Versagen der Richterschaft in der NS-Zeit hat er auch einen ganz klaren Appell an die neuen Richter gerichtet.

Ich zitiere ihn noch einmal: "Die Erneuerung des Rechts aber setzt auch eine Erneuerung des Richterstandes voraus. An die Stelle des farblos richtenden Beamten muss der Richter treten, der ausgestattet mit der Toga der richterlichen Unabhängigkeit sich als leidenschaftlicher Repräsentant einer neuen demokratischen und sozialen Gemeinschaft fühlt."

Adina Murrer
Inwieweit war die hessische Justiz noch mit Altlasten aus der NS-Zeit behaftet? Und wie zeigte sich das in der Richterschaft?

Dr. Roman Poseck
In Hessen hatten wir nach dem Krieg die gute Entwicklung, dass es weniger belastete Richter in der Justiz gab, als das in den meisten anderen Bundesländern der Fall war. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass in Hessen Personen tonangebend waren, die selbst Verfolgte des Nationalsozialismus waren. Georg Augustin, hatte ich schon genannt, er hat wesentliche Grundlagen für die hessische Justiz nach dem Krieg geleistet. Daneben aber auch der allseits bekannte Fritz Bauer, aber auch Kurt Staff, der Frankfurter OLG Präsident von 1951 bis 1970 war - alle drei waren Verfolgte der Nationalsozialisten, alle drei haben maßgeblich am Wiederaufbau der hessischen Justiz nach dem Krieg mitgewirkt. Ergebnis war, dass beim Oberlandesgericht z.B. 1953 25% der Richter aus einer NS-Vergangenheit heraus belastet waren. 1960 waren es 20 Prozent. Man mag sagen, dass das doch immer noch relativ hohe Anteile sind. Aber wenn man es mit anderen Bundesländern vergleicht, sind es jedenfalls wesentlich geringere Anteile.

Adina Murrer
Herr Dr. Poseck, lassen Sie uns über die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit sprechen. Was ist dabei eher kritisch und was vielleicht sogar positiv hervorzuheben?

Dr. Roman Poseck
Natürlich gibt es, auch wenn man die Justiz in der Nachkriegszeit nach dem 8. Mai 1945 betrachtet, Entwicklungen, die aus heutiger Sicht nicht als gut bezeichnet werden können. Dazu gehört insbesondere, dass es keine konsequente juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Nazis gegeben hat. Nazi Richter kamen juristisch überwiegend davon. Es hat aber auch keine erfolgreiche Aufarbeitung der sonstigen Verbrechen der Verantwortungsträger des Nazi-Regimes gegeben. Immerhin, wir können in Frankfurt auf ein leuchtendes Gegenbeispiel verweisen, nämlich den Auschwitz-Prozess, der hier in Frankfurt vor 50 Jahren stattgefunden hat.

Ich denke jetzt in diesen Tagen des Kriegsendes vor 75 Jahren auch an eine Veranstaltung zurück, die wir im Februar im Oberlandesgericht damals noch mit Publikum durchführen konnten. Wir hatten Gerhard Wieser eingeladen, der heute 92 Jahre alt ist und damals schon in dem Auschwitz Verfahren als junger Staatsanwalt tätig war. Er hat uns sehr authentisch über das Verfahren, die Abgründe von Auschwitz und die Persönlichkeiten der Täter berichtet. Der Beharrlichkeit der Ankläger unter der Federführung von Fritz Bauer ist es zu verdanken, dass am Ende des Verfahrens ein rechtskräftiges Urteil stand, in dem festgehalten wurde, was in Auschwitz passiert ist mitsamt der Existenz von Gaskammern und Krematorien.

Ich zitiere Gerhard Wiese in der Veranstaltung bei uns im Oberlandesgericht: "Keiner sollte danach mehr behaupten können, dass es so etwas nicht gegeben hat. Das war damit höchstrichterlich bestätigt worden.

Adina Murrer
Wenden wir uns nun der Gegenwart zu. Was haben wir Ihrer Ansicht nach aus der NS-Zeit gelernt? Insbesondere natürlich unter dem juristischen Aspekt.

Dr. Roman Poseck
Unser Land ist durch eine lebendige Erinnerungskultur in den letzten Jahrzehnten geprägt gewesen. Es hat ein sehr festes Band, das "Nie wieder", das "Nie wieder Krieg", "Nie wieder Diktatur" in unserem Land in den vergangenen 75 Jahren gegeben. Nach meiner Wahrnehmung hat dieses Band Brüche bekommen. Das liegt zunächst daran, dass wir nur noch auf sehr wenige Zeitzeugen zurückgreifen können. Das liegt aber auch daran, dass es inzwischen im politischen Raum unerträgliche Relativierungen der Zeit des Nationalsozialismus gibt. Wenn beispielsweise von einem Vogelschiss in der deutschen Geschichte die Rede ist oder gar eine erinnerungspolitische Wende gefordert wird - das sind Relativierungen auf einem politischen Kalkül heraus. Sie machen auch ganz deutlich, vor welchen neuen Gefahren wir heute stehen. Gefahren, die vor allen Dingen von dem fließenden Übergang vom Rechtspopulismus zum Rechtsextremismus und schließlich zum Rechtsterrorismus aussehen. Diese Gefahren sind sehr real. Sie bedrohen das Leben von Menschen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Halle und Hanau stehen beispielhaft für diese erschreckende Entwicklung. Wir dürfen die Lehren aus den Schrecken der Nazizeit nicht verspielen. Das lehrt auch der 8. Mai 1945.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das steht am Anfang unseres Grundgesetzes und über unserer gesamten Rechtsordnung. Die Grundlagen dafür wurden vor 25 Jahren geschaffen. Deutschland wurde befreit von einer 12-jährigen Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus. Die Menschen lebten damals in großer Not, auch in Verunsicherung. Aber sie hatten eine neue Freiheit und sie hatten vor allem auch neue Chancen gewonnen. Und diese haben sie genutzt. Mit der Unterstützung der Alliierten, aber auch unter der Federführung von sehr mutigen Männern, die dieses Land wieder aufgebaut haben, wie Konrad Adenauer, wie Kurt Schumacher oder auch Theodor Heuss.

Adina Murrer
Welche Bedeutung hat die Erinnerungskultur für die Justiz und welche Maßnahmen bzw. welche Projekte gibt es in der Justiz, um sich lebhaft zu erinnern?

Dr. Roman Poseck
Eine lebendige Erinnerungskultur ist aus meiner Sicht von überragender Bedeutung. Und zum Glück haben wir die in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten auch gepflegt. Ich halte es auch für sehr wichtig, dass wir sie auch in Zukunft pflegen, auch wenn wir eben leider immer weniger auf Zeitzeugen dabei zurückgreifen können. Aber wir brauchen dieses feste Band in der Gesellschaft, das "Nie wieder", "Nie wieder Krieg", "Nie wieder Diktatur". Und ich glaube, dafür ist die lebendige Erinnerungskultur ganz besonders wichtig. Ich denke, das ist ein Thema, das in der Bildung überragende Bedeutung hat, das in unseren Schulen eine große Rolle spielen muss.

Ich kann mir deshalb durchaus vorstellen, dass es auch verpflichtend gemacht wird, dass Schülerinnen und Schüler Konzentrationslager besuchen, dass sie die Schrecken des Nationalsozialismus so anschaulich wie das im Moment möglich ist, auch tatsächlich erfahren. Wir legen auch in der Justiz großen Wert darauf, dass wir uns erinnern. Zum einen haben wir beim Oberlandesgericht eine ganz umfangreiche Aufarbeitung der Nazi-Zeit gestartet, zum anderen ist die Beschäftigung mit der Nazi Justiz, den Irrläufern der Nazi Justiz, auch ein ganz fester Bestandteil der juristischen Ausbildung.

Also beispielsweise haben wir für Referendare Tagungen und wir haben auch Tagungen für junge Richter und junge Staatsanwälte, also Berufsanfänger. Bei denen ist es verpflichtend, dass sie sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Es darf nie wieder so weit kommen, dass Richter, dass Staatsanwälte das Recht so pervertieren, wie es leider unsere Vorgänger in der Nazi-Zeit gemacht haben. Und dafür brauchen wir Aufklärung, Bildung und Diskussion. Und ich glaube, da haben wir in Hessen eigentlich eine ganze Menge auch zu bieten.

Und an dieser Erinnerungskultur sind sehr, sehr viele Menschen sehr engagiert und sehr intensiv beteiligt. Und das ist gut so. Und das sollten wir uns auch nicht von denen kaputtmachen lassen, die von dieser Erinnerungskultur nichts halten.

Adina Murrer
Sehr geehrter Herr Dr. Poseck, vielen Dank für die historische Einordnung und für die interessanten Einblicke in die unterschiedlichen Phasen der Justiz nach 1945. Damit bedanke ich mich auch bei allen Zuhörerinnen und Zuhörer, die eingeschaltet haben in unsere zweite Folge des Podcasts. In der nächsten Folge wird Herr Schönstädt, der VGH-Präsident, unser Gast sein. Also einschalten nicht vergessen, wenn es wieder heißt "Zeit für Justitia - der Justiztalk aus Hessen".