Der ehemalige Oberstaatsanwalt Johannes Warlo war mit den Ermittlungen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, vornehmlich im Zusammenhang mit den sogenannten Euthanasiemaßnahmen des Drittes Reiches sowie mit der Vorbereitung und Abfassung der Anklageschrift gegen Angestellte und Ärzte der Euthanasieanstalten, betraut. In dem zweiteiligen Podcastgespräch erzählt Herr Warlo wie er rückblickend diese Euthanasie-Prozesse erlebt hat, ob er mit deren Bilanz zufrieden ist und warum das Strafrecht noch nicht für Prozesse dieser Art ausgelegt war.
2. Mai 2022
Moderatorin (00:03)
Zeit für Justitia - Der Justiztalk aus Hessen.
Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Podcastfolge: Zeit für Justitia - Der Justiztalk aus Hessen. Heute, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, haben wir einen besonderen Gast, nämlich den ehemaligen Oberstaatsanwalt Johannes Warlo. Ich darf durchaus verraten, Herr Warlo, Sie sind 94 Jahre alt und haben heute die Ehre, mit Ihnen über eine ganz besondere Zeit zu sprechen. Nämlich waren Sie damals unter Fritz Bauer bei den NS Ermittlungsverfahren beteiligt, insbesondere zu den NS Euthanasieverfahren und auch gegen Ärzte, die Euthanasieanstalten betreut haben. Herr Warlo, Sie haben nach Ihrem Jurastudium in Hessen, in der Staatsanwaltschaft Limburg, aber auch in Wiesbaden gearbeitet, bevor Sie dann hierher an die Generalstaatsanwaltschaft nach Frankfurt gekommen sind. Fritz Bauer hat Sie gefragt, kann man sagen…nun, ich habe es gerade gesagt, wir sind auch heute hier in der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt. Wie ist es jetzt für Sie nach, man kann sagen, genau 60 Jahre, nämlich 1961, wurden Sie von Fritz Bauer gefragt, berufen, je nachdem. Wie ist es für Sie heute, vor diesem Hintergrund wieder hier zu sein, in Ihrer alten Wirkungsstätte?
Johannes Warlo (01:29)
Es hat sich alles verändert. Man erkennt eigentlich alles nicht mehr so richtig. Aber das ist allgemein so. Frankfurt ist gewachsen, der Verkehr hat zugenommen. Es sind eine ganze Menge von Neubauten da. Also wer vor 40 Jahren hier in Frankfurt war, der würde es heute nicht mehr wiedererkennen. Auch hier die ganze Gegend, hier die Gebäude, hier war ja vorher praktisch das Ende der Zeil, und es ist viel weiter ausgebaut worden.
Moderatorin (01:56)
Wo hatten Sie denn damals Ihr Büro, hier in der Generalstaatsanwaltschaft?
Johannes Warlo (02:00)
Ich hatte ein winziges kleines Zimmer gegenüber dem Büro von Generalstaatsanwalt Bauer. Das heißt, ich habe angefangen in einem Drei Mann Zimmer, wo jeder den anderen beäugte. Und wenn er auf die Toilette ging, in die Akten der anderen guckte, jedenfalls ging mir das so. Und da sagte ich meinem Chef damals: „Wenn ich geheime Sachen bearbeiten soll, kann ich das nicht gewährleisten“. Sonst müsste ich mit den ganzen Akten auf die Toilette gehen. Und da hat er gesagt: „Ne, da kriegen Sie ein kleines Zimmer“. Und da habe ich dieses kleine Zimmer, das früher nur ein Abstellraum für Akten war. Es wurde freigeräumt, da hatte ich dieses kleine Zimmerchen.
Moderatorin (02:39)
Und wie war das damals für Sie? Weil Sie haben ja vorher in der Staatsanwaltschaft Wiesbaden gearbeitet. Wie war denn jetzt der Wechsel, tatsächlich dann auch hier nach Frankfurt zu kommen? Sind Sie gerne hierhergekommen? Oder war dann doch auch ein bisschen Wehmut dabei?
Johannes Warlo (02:54)
Also offen gestanden, ich bin ungern von Wiesbaden weggekommen. Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden war zu damaliger Zeit für alle jungen Staatsanwälte erstrebenswert. Ja, wer nach Wiesbaden kam, der konnte sich glücklich schätzen. Und ich konnte mir das damals, ich kann ja auch darauf zurückkommen, gewissermaßen aussuchen, ob ich nach Frankfurt oder nach Wiesbaden ging. Und da habe ich mich für Wiesbaden entschieden, zumal ich auch in Wiesbaden gewohnt habe. Aber das war wirklich eine ideale Behörde damals in Wiesbaden. Die Arbeit war sehr angenehm und wir hatten damals ja auch viel mit Wein und mit solchen Dingen zu tun. Und wir hatten auch mit der Wasserschutzpolizei zu tun, was den Vorteil hatte, dass wir Betriebsausflüge zu Schiff machen konnten. Und ich bin ungern von Wiesbaden weggegangen, aber ich wurde ja auch nicht lange gefragt.
Moderatorin (03:40)
Und es stand ja hier auch einiges an, also Fritz Bauer hatte ja viel vor.
Johannes Warlo (03:41)
Es stand einiges an und ich wusste damals, als ich hierherkam nicht was mich erwarten würde. Mir wurde nur von dem damaligen Behördenleiter, Dr. Rahn in Wiesbaden, erklärt, er müsse mir was Unangenehmes mitteilen. Mehrmals hätte die Staatsanwaltschaft am Oberlandesgericht, also die Generalstaatsanwaltschaft, versucht mich nach Frankfurt zu holen. Er hätte das jedes Mal mit Erfolg abwehren können, aber inzwischen sei die Sache etwas unangenehm geworden. Der Generalstaatsanwalt hätte sich persönlich eingeschaltet und bestünde darauf, dass ich nach Frankfurt müsste. Hätte man dann mit dem Generalstaatsanwalt vereinbart, dass Herr Rahn mit mir persönlich vorsprechen würde, um die Sache noch einmal zu klären. Ja, die Klärung bestand darin, dass erst mal Herr Rahn mit mir hier zum Generalstaatsanwalt fuhr, nach Frankfurt und das Rahn seine Gründe, mich zu behalten in Wiesbaden, vorgetragen hat. Und daraufhin sagte dann Dr. Bauer: „Herr Rahn geben Sie sich weiter keine Mühe, der Mann ist abgeordnet“. Ich wurde nicht gefragt. Ich habe kein Wort gesprochen. Und ich muss dazu sagen, ich hatte in Wiesbaden allerdings ein besonderes Dezernat, das schwer zu vergeben war. Jeder hat etwas… Also es war das Wirtschaftsdezernat. Also jeder hatte Angst, das zu bearbeiten. Das ist ein etwas abseitiges Rechtsgebiet gewesen und es war nicht jedermann. Und ich war damals der Jüngste und als der damalige Wirtschaftsdezernent ein Herr Hochstrate, aus Altersgründen ausschied und das Dezernat neu besetzt werden musste, er auch zu mir kam und sagte, er würde es ungern sehen, wenn ich das ablehnen würde, aber er hätte keinen anderen Mann, ich müsste das übernehmen und habe das übernommen. Und ich kam da eigentlich recht gut an. Ich hatte auch eine Arbeitsgruppe beim Landeskriminalamt, mit der ich sehr eng zusammenarbeiten konnte und die hingen an mir geradezu. Die bestanden darauf, dass ich das weitermachen würde. Und die habe auch damals gedroht, wenn ich wegginge, dass sie nicht mehr für die Staatsanwaltschaft Wiesbaden arbeiten würden, sondern wieder für die Staatsanwaltschaft Frankfurt. Und so ist es auch geschehen.
Moderatorin (05:52)
Nun hat in Frankfurt aber was ganz anderes auf Sie gewartet. Keine Wirtschaftssachen, sondern…
Johannes Warlo (05:56)
Ja, und das wurde auch nicht gesagt. Auch der Herr Rahn wusste es nicht. Und er sagte nur, der Generalstaatsanwalt bestünde darauf, dass ich nach Frankfurt käme. Kam also hierher. Ich sagte schon, ich habe kein Wort gesagt, ich war dann plötzlich abgeordnet. Und dann, ein oder zwei Tage später, musste ich hier antanzen und meinen Dienst antreten. Da erfuhr ich was los ist. Das ist also eine hochpolitische Angelegenheit, nicht wahr? Es ginge immer wieder, dass Gerüchte und auch Nachrichten kämen, immer wieder, dass der damalige Bormann, der der Parteivorsitzende der NSDAP, dass der noch leben würde und wahrscheinlich über die sogenannte Rattenroute in Südamerika gelandet sei. Und mehrmals ist schon mitgeteilt worden, dass man ihn gesehen habe in Südamerika und man müsste jetzt hier ein Verfahren gegen ihn einleiten, falls er gefunden würde, dass man die Auslieferung betreiben könnte aus Südamerika und hier ein Verfahren gegen Bormann offiziell eröffnen könnte. Und ich sollte Akten anlegen und die Ermittlungen so weit führen, dass man einen Haftbefehl erwirken könnte und mithilfe dieses Haftbefehls dann die Auslieferung betreiben könnte.
Moderatorin (07:10)
Ich würde einmal kurz auch unsere Zuhörerinnen und Zuhörer abholen, wer denn Martin Bormann war, damit einfach jeder ihn auch einordnen kann. Sie haben es schon gesagt oder angedeutet, er war auch SS Obergruppenführer, Reichsleiter der NSDAP, Hitlers Sekretär, und man kann fast vielleicht sagen, wirklich ein wichtiger Mann an Hitlers Seite, in dem Sinne mit viel Macht. Und er wurde etliche Male totgeschwiegen. Der Spiegel hat mal getitelt „Es gab 16 Tode des Bormanns“. Also sprich mehrere Mythen haben sich um ihn herum geschürt, und es hielt sich hartnäckig, dass er noch lebte. Warum war Fritz Bauer tatsächlich sicher, dass Martin Bormann noch leben würde? Was hat Ihnen der so sicher gemacht?
Johannes Warlo (07:51)
Ach, es gab eine ganze Reihe von Leuten, die auch irgendwie hergeschrieben hätten, sie hatten den Bormann irgendwie gesehen. Bauer hatte ja auch gewisse Verbindungen, auch zu den Botschaften und so weiter. Und ihm schien einige Meldungen ziemlich glaubhaft. Ich kann da gleich was vorwegnehmen, nicht wahr. Diese Meldung haben sich danach alle mehr oder weniger als Enten erwiesen. Und es gab auch eine ganze Menge von Zuträgern, die sich auf diese Weise für ihre Nachrichten irgendwie etwas Geld erhofften. Aber jedenfalls war das da, für Bauer schienen die Nachrichten ziemlich glaubhaft, zumal ja auch andere Leute nach Amerika gekommen sind und dort anonym leben konnten. Ich denke an Eichmann und das ist ja die sogenannte Rattenroute, die über den Vatikan, den damaligen Bischof Hudal, hieß der, glaube ich, haben die Visa bekommen für Südamerika und sind da untergekommen. Also höhere SS Offiziere und so weiter. Wie gesagt, der Eichmann ist ein Typ dafür, aber er war nicht der Einzige. Barbie zum Beispiel auch, und das glaubte man auch von Bormann. Bormann war ja an sich die sogenannte graue Eminenz von Hitler. Er hat in allen Dingen mitgemischt und zu allem was gesagt, der hatte eigentlich mehr Macht, als nach außen erschien, obwohl er nur der Parteivorsitzende gewissermaßen war. Für Bauer war das eine wichtige Figur und Bauer machte ihn auch für alle diese Verbrechen von Hitler zumindest mitverantwortlich. Und dann hat er, Bauer, vor allen Dingen auch betont, dass Bormann derjenige war, der den Befehl Hitlers weitergeben sollte an das Militär. Und weil alles das hier, wenn die Alliierten nicht einrückten, alles zur verbrannten Erde werden sollte.
Moderatorin (09:43)
Und ihre Aufgabe war es dann…
Johannes Warlo (09:45)
Meine Aufgabe war irgendwie zusammen zu finden, was man ihm vorwerfen könnte, nicht wahr? Welche Verbrechen im Einzelnen, dass man daraufhin einen Haftbefehl erwirken könnte. Man muss dazu sagen, Bormann ist in Abwesenheit vom damaligen Nürnberger Tribunal zum Tode verurteilt worden. Aber er galt damals als vermisst, aber nicht als tot. Es gab damals eine Aussage des früheren Jugendführers Axmann, der gesehen haben will, die Leiche von Bormann und einem Arzt Ludwig Stumpfegger (Leibarzt Hitlers, Anm. Redaktion), die auf der Flucht aus der Reichskanzlei in der Nähe des Anhalterbahnhofs gefunden worden seien. Man glaubte damals, dass das eine Schutzbehauptung von Axmann war, um den Bormann zu schützen. Deshalb hat man ihn auch nicht für tot erklärt, sondern hat ihn als abwesend bezeichnet, nicht wahr? Und hat auch das Urteil gegen ihn in Abwesenheit verkündet.
Moderatorin (10:42)
Und das Urteil lautete?
Johannes Warlo (10:44)
Das war Todesurteil. Und Bauer meinte eben, wenn er noch lebt, nicht wahr? Dann müsste man versuchen, das Verfahren wieder aufzunehmen beziehungsweise hier vor ein deutsches Gericht zu stellen und ein ordentliches Verfahren gegen ihn durchzuführen.
Moderatorin (10:58)
Und wie ist Ihnen das dann gelungen?
Johannes Warlo (11:01)
Ja, ich sollte also zunächst einmal eine Akte anlegen und Ermittlungen über seinen möglichen Fluchtweg anzustellen. Das habe ich auch getan. Ich habe eine ganze Menge von ehemaligen, eng Vertrauten von Hitler damals persönlich vernehmen müssen. Ja, in ganz Deutschland bin ich da ziemlich herumgefahren.
Moderatorin (11:20)
Waren die denn gesprächsfähig? Also haben die sich überhaupt geöffnet Ihnen gegenüber?
Johannes Warlo (11:23)
Ach Gott, ich kam eigentlich mit denen an sich recht gut klar. Die haben mir schon erzählt, was sie so wussten. Und vor allen Dingen, es ging ja auch um den Weg, wie er aus der Reichskanzlei herausgekommen war. Und das stellte sich an sich heraus. Und ich fand, dass es möglich war, dass eine ganze Menge von Leuten rausgekommen sind. Einige sich unnötig totgeschossen haben aus Angst vor den Russen, dabei hätten sie das gar nicht zu riskieren brauchen, denn die wären auch so rausgekommen. Eine Menge sind damals rausgekommen und Bormann war auch auf dem Wege da und die ist dann irgendwie offenbar in eine Patrouille von Russen geraten und ist erschossen worden. Denn das war ja praktisch eine offene Front und die Russen rückten immer näher und da versuchte man irgendwie da durchzukommen. Bormann hatte ja auch den Auftrag von Hitler, ein Exemplar seines Testamentes, eines politischen Testaments, an die neue Reichsregierung zu überbringen.
Moderatorin (12:23)
Okay, also eine entscheidende Figur auch…
Johannes Warlo (12:25)
Er war eine mitentscheidende Figur und hoffte wohl, sich damals auch ein wichtiges Ministeramt zu ergattern.
Moderatorin (12:33)
Und neben Martin Bormann war ja auch noch der sogenannte T4 Komplex. Kann man so sagen.
Johannes Warlo (12:40)
Das war auch der T4 Komplex. War auch einer der Punkte, denn er hat ja auch irgendwie mitgewirkt. Ich erinnere mich noch zum Beispiel an ein Schriftstück von Bormann, in dem er über die Person des damaligen Bischofs von Münster, Graf Galen, etwas schrieb. Und zwar sagte er, es sei angeordnet worden, dass man jetzt gegen Galen nicht vorgehen solle, dass man erst nach dem Endsieg ihn zur Verantwortung ziehen sollte. Ich habe ihm gesagt, da eine ganze Reihe von ehemaligen nicht Regierungsmitgliedern selbst, aber die da in der Reichskanzlei damals beschäftigt waren und da auch noch in der Reichskanzlei ausharrten, nicht wahr? Die dann geflohen sind, die habe ich da ermittelt, zum Beispiel der Fahrer von Hitler oder auch Leute, die Hitler persönlich betreuten, die habe ich da damals auch vernommen. Wenn ich so an den Film...wie hieß der? Wo der Bruno Ganz den Hitler da spielte… Der Untergang. Ja, die Leute, die da auftreten, die habe ich alle damals vernommen. Das war also schon hochinteressant.
Moderatorin (13:48)
Und hatten Sie da, frage ich jetzt mal, Angst? Weil am Ende sind das ja Menschen, die im Zweifel auch Morde begangen haben.
Johannes Warlo (13:55)
Ach Gott, ja. Das waren Beteiligte an Morden. Direkt gemordet haben sie wohl nicht. Aber auch selbst wenn, man kann auch mit Mördern sprechen.
Moderatorin (14:04)
Sicherlich. Ja, aber...
Johannes Warlo (14:07)
Ja, ich wurde auch bedroht, aber nicht mehr in diesem Zusammenhang, sondern wegen einer anderen Geschichte. Man ist auch schon mal mit einem Tisch auf mich zugegangen, als ich jemanden verhört habe. Also so ist das nicht. Angst darf man in meinem Beruf nicht haben. Ich musste auch mal drei Monate aus meiner Wohnung raus. Ich war bei meinem Bruder wohnen, weil er gedroht hatte, wenn er entlassen würde, nicht wahr, dass er mich umbringen würde. Also, ich habe keine Angst vor Menschen.
Moderatorin (14:33)
Okay und was ist denn am Ende dann auch dabei rausgekommen? Also Sie hatten jetzt viele Ermittlungen durchgeführt beziehungsweise Verhöre.
Johannes Warlo (14:40)
Also ich habe dann, wie gesagt, das zusammengestellt, das Material, auch den Antrag auf den Haftbefehl. Der ist auch ergangen und damit war an sich zunächst diese Sache ja erledigt. Bauer führte ja auch Ermittlungen im Zusammenhang der sogenannten Euthanasie. Und zwar war das der Arzt, der Professor Heyde und dann noch drei weitere Leute. Und das sollte ein Verfahren, auch ein etwas wichtigeres Verfahren werden. Das war ja die erste sogenannte größere Mordaktion von Hitler. Das war ja die Euthanasie, die war ja gleichzeitig der Probelauf, wie weit in der deutschen Bevölkerung solche Mordaktionen ankommen würden. Das war praktisch davor der Probelauf für die spätere Judenvernichtung.
Moderatorin (15:26)
Nun reden wir von Euthanasieverbrechen. Was genau versteht man denn dahinter? Sie haben sich ja mit diesen Fällen beschäftigt. Vielleicht können Sie uns mal einen Einblick geben, was tatsächlich dann diese Systematik bedeutet hat.
Johannes Warlo (15:40)
Also das Wort Euthanasie ist ja schon irreführend, denn das hat ja mit einem guten Tod nichts zu tun. Das war ein glatter Massenmord. Es ging darum, die Kranken vor allen Dingen die Erbkranken, also die Kranken, die in Heil- und Pflegeanstalten, also in öffentlichen Anstalten untergebracht waren, auch in privaten übrigens untergebracht waren, dass man die, soweit sie nicht arbeitsfähig waren, praktisch tötete, um dem Staat eine Last abzunehmen. Und diese, ich sagte ja schon vorhin, das war auch ein Rassegedanke, spielte da eine gewisse Rolle. Aber man wollte wohl auch den Staat weitgehend entlasten von den Kosten und von diesem ganzen Unterhalt.
Und die Euthanasieaktion, die war so organisiert, dass zunächst mal das Innenministerium, die Gesundheitsabteilung des Innenministeriums, ein gewisser Dr. Linden war dafür verantwortlich, Fragebögen an alle Heil- und Pflegeanstalten verschickte, wobei sie da die Anstalten aufforderte, alle diese Kranken zu melden und bestimmt ihre Krankheiten anzugeben, auch ihre Arbeitsfähigkeit, wie sie arbeiteten und so weiter. Und über diesen Zustand die Fragebögen da auszufüllen. Und die Fragebögen wurden dann zusammengefasst vom Innenministerium und an die sogenannte Reichsarbeitsgemeinschaft der Heil- und Pflegeanstalten, da sind die vier gewesen, weitergeleitet. Und dann wurden diese Fragebögen jeweils fotokopiert und an drei ausgesuchte Ärzte als sogenannte Gutachter verschickt, die durch ein Zeichen, Kreuz oder Minus oder Fragezeichen mehr wurde dazu nicht verlangt, entschieden oder votierten, ob sie in die sogenannte Euthanasieaktion, also das heißt mit dem Ziel der Tötung, eingezogen werden sollten oder ob sie weiterleben konnten und in Anstalten bleiben konnten, sollte das so begutachtet werden. Und diese Fragebögen lediglich mit diesem Gutachten von den drei Ärzten und so Plus, Minus oder Fragezeichen. Plus bedeutete in der Anstalt, die werden getötet, Minus bedeutete, sie sollen zurückgestellt werden und Fragezeichen hieß sie sollen vorläufig zurückgestellt werden. Man sollte sie weiter beobachten. Und die drei Fragebogen wurden dann an einen sogenannten Obergutachter geschickt und der entschied dann letzten Endes, ob die zu töten waren oder nicht. Auch durch ein Plus oder Minus. Und das war die äußere Erfassung der Kranken.
Dann gab es die sogenannte gemeinnützige Krankentransportgesellschaft, die vor allem dem Herrn Vorberg unterstand und der hatte seine Busse und Fahrer und Pflegepersonal. Und dieses Personal holte dann in Bussen die Kranken, die also getötet werden sollten, zunächst direkt in die Anstalten, in die Euthanasieanstalten oder in sogenannte Zwischenanstalten, wo sie gesammelt wurden und dann auf die einzelnen Euthanasieanstalten verteilt wurden. Euthanasieanstalten waren damals jeweils vier, vier Stück gab es damals. Die eine war in Grafeneck, dann war eine erst mal in Brandenburg und später Bernburg und dann die Dritte war in Sonnenstein bei Pirna und die Vierte war in Österreich in der Nähe von Linz Hartheim, das ist ein ehemaliges Schloss gewesen. Grafeneck wurde im Laufe der Zeit nach der Predigt vom Grafen Galen wurde ersetzt, weil es in Misskredit geraten war durch Hadamar und Brandenburg, das das Zuchthaus war, wurde ersetzt durch Bernburg, und zwar deswegen, weil der Geruch in Brandenburg das war mitten in der Stadt, die ganze Stadt verpestete und die Bevölkerung sich gegen diesen Geruch von dieser Anstalt da wehrte. Und da wurde das raus nach Bernburg verlegt. Und das waren, wie gesagt die vier sogenannten Euthanasieanstalten. Die waren extra dafür eingerichtet. Duschraum getarnten Vergasungsraum. Das hat man später dann auch in KZs gehabt. Da kam aus den Düsen Gas und nicht Wasser. Und vorher wurden die Kranken Ärzten vorgeführt. Das waren die Assistenzärzte in den Heil- und Pflegeanstalten. Das sah so aus, als ob sie normal ausgemustert würden, aber in Wirklichkeit diente es dazu, dass die Ärzte, die sich die Kranken nackt ansahen, feststellen wollten was für eine Todesursache man später angeben könnte. Ich meine, es ist ja vorgekommen, dass die Leute angeblich an Blinddarmvereiterung gestorben waren, obwohl der Blinddarm ihnen schon entfernt worden waren. Und solche Peinlichkeiten wollte man vermeiden und deshalb diente die Vorführung vor die Assistenzärzte dazu. Die Ärzte haben nur geguckt, was können wir sagen, woran der gestorben ist. Dann war es Aufgabe der Ärzte, den Gashahn aufzudrehen. Und dann wurden sie rausgeschickt und im Krematorium verbrannt.
Moderatorin (21:20)
Herr Warlo, Sie haben nun erschreckend gezeigt, geschildert, wie die Euthanasie tatsächlich dann von den Nazis durchgeführt wurde. Dabei ist es fast unmöglich zu glauben, dass es keiner mitbekommen hat von der Gesellschaft und der Bevölkerung.
Johannes Warlo (21:29)
Also die Angehörigen haben das auf jeden Fall mitgekriegt, denn die kriegten ja erstens einmal die Mitteilung, dass die Kranken verstorben sind, mit Beileidsbekundungen und diesem falschen Zeugs. Und auf Verlangen kriegten sie auch eine Todesursache, die natürlich falsch war, sowohl die Daten stimmten nicht und vor allen Dingen die Todesursache stimmt nicht. Und auch die Anstalt, in der sie vergast wurden, stimmte letzten Endes nicht, weil das also herumgeschoben wurde, damit das möglichst geheim blieb und nicht so breit gestreut wurde.
Moderatorin (22:01)
Hatten die Angehörigen ein Interesse, die Wahrheit herauszufinden?
Johannes Warlo (22:04)
Nur Einzelne schon. Es gab natürlich auch welche, die sagten; „Jetzt bin ich endlich mal die Sache los, die Last los“. Aber die meisten haben schon an ihren Angehörigen gehangen. Zumal es ja auch oft Kranke waren, die gar nicht so krank waren, die ja durchaus pflegebedürftig waren und nicht allein gelassen werden konnten, aber mit denen man reden konnte und so weiter. Und da haben ja schon viele auch protestiert.
Moderatorin (22:27)
Man muss vielleicht auch mal sagen, was unter „krank“ verstanden wurde. Das ist ja nicht…
Johannes Warlo (22:36)
Das ist eine sehr große Bandbreite.
Moderatorin (22:37)
Also da waren sowohl körperlich Behinderte, aber auch Homosexuelle etc. dabei.
Johannes Warlo (22:44)
Es waren ja alles Leute, die in Heil- und Pflegeanstalten waren, auch in privat natürlich, aber die Krankheiten waren verschieden. Da gab es welche, denen man es gar nicht so angesehen hatte, mit denen man sich normal unterhalten konnte, aber die nicht mehr in Freiheit leben konnten. Und Schizophrenie ist ohnehin ein Problem. Die haben ja nur zeitweise diese unmöglichen Ausfälle und zeitweise sind sie da ganz normal. Und es gab alle möglichen Krankheiten. Es gab Leute, die tobten und wild waren. Damals waren auch die Heilanstalten ganz anders als heute, nicht wahr? Heute werden die Kranken mehr oder weniger alle ruhiggestellt durch Medikamente. Aber damals gab es solche Medikamente nicht, die haben total wahnsinnig getobt, und da gab es einen Lärm, das kann man sich nicht vorstellen. Das gibt es vielleicht heute bei Aufständen in irgendwelchen Anstalten, in amerikanischen Anstalten, ja, aber die waren damals nicht so wie heutzutage.
Aber das ist ja kein Grund, deswegen zu sagen, die müssen alle umgebracht werden. Und vor allen Dingen, man hat ja gar nicht danach gefragt, ob das nur die ganz Kranken waren. Das sind da nur relativ selten auch diese äußerlich entstellten Leute, die sind so selten, dass in psychiatrischen Abhandlungen und Büchern immer jahrzehntelang die gleichen Bilder gezeigt wurden, weil man nicht genug hatte, um das zu demonstrieren. Und das sind so seltene Fälle. Diese völlig entstellten Leute und diese tobenden, dass man die an den Fingern abzählen konnte. Und die meisten waren irgendwie durchschnittlich, mit denen man reden konnte. Und die Angehörigen haben die auch besucht und dann plötzlich waren die weg. Die kriegten ja nur die Mitteilung, der Angehörige sei in eine andere Anstalt verlegt worden. Das Ziel haben sie nicht mitgeteilt, konnten sie auch gar nicht. Und dann, nach drei Wochen oder vier Wochen kriegten sie die Sterbeurkunde, die seien an der und der Krankheit leider verstorben, mit der Beileidsbekundungen, was natürlich geheuchelt war. Und auf Wunsch könnten sie die Urne bekommen. Die einen haben sich die Urne mit der Asche zu senden lassen, die anderen nicht. Es war natürlich nicht die Asche, die sie gerade hatten. Man hat an Asche genommen, was übrig geblieben war und das aufgefüllt. Schon makaber die ganze Geschichte gewesen.
Moderatorin (25:05)
Genau. Also auch noch mal, um auch alle abzuholen. Professor Heyde war damals der Leiter.
Johannes Warlo (25:13)
Professor Heyde war damals der ärztliche Leiter der sogenannten Euthanasieaktion. Und Bohne war Jurist, der sollte das rechtliche, verwaltungsmäßige aufbauen und dann gab es noch einen.
Moderatorin (25:33)
Doktor Hefelmann habe ich noch gesehen und Tillmann.
Johannes Warlo (25:36)
Tillmann war ein Jugendbetreuer früher und sich auch mit Anstaltswesen auskennen sollte und Hefelmann war für die Jugendeuthanasie dann zuständig. Hefelmann ein Referent in der Kanzlei des Führers, war für Gnadengesuche auch im Zusammenhang mit Euthanasieverfahren zuständig. Man sprach damals von einem Fall, dass sich die Eltern irgendwie an Hitler gewandt hätten wegen eines kranken Kindes, eines geisteskranken Kindes und wie alt das Kind war, das weiß ich nicht mehr. Und da sei der Hefelmann damit beauftragt worden zu überprüfen, wie weit so was möglich wäre und so weiter und wie weit Hitler sich da einschalten könnte.
Moderatorin (26:18)
Und Professor Heyde, habe ich herauslesen können, ist auch die Flucht gelungen?
Johannes Warlo (26:25)
Ja, Heyde war damals verhaftet worden im Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen der Alliierten als Zeuge. Man hat damals auch dem eigentlichen Verantwortlichen Brack, das war ein Abteilungsleiter, auch in der Kanzlei des Führers, den Prozess gemacht, und da sollte wohl Heyde als Zeuge vernommen werden. Und auf der Rückfahrt von seiner Zeugenvernehmung aus Nürnberg in Richtung Frankfurt, da gelang ihm die Flucht von dem LKW, der ihn transportierte. Und er war dann verschwunden. Und das ist natürlich eine Geschichte für sich, die Flucht von Heyde und das Untertauchen unter falschem Namen in Schleswig-Holstein, wo jeder wusste, wer das war. Selbst bei den Gerichten, die ihn als Sachverständigen da immer wieder gernhatten und keiner wirklich sagte.
Moderatorin (27:17)
Aber warum sagte da keiner was? Also hatten? Was war denn da?
Johannes Warlo (27:21)
Ja, das war die damalige Zeit.
Moderatorin (27:23)
Das kann man sich heutzutage gar nicht vorstellen.
Johannes Warlo (27:26)
Ach Gott, weiß ich nicht. Heyde war ja eigentlich auch der Leiter der Würzburger Nervenklinik gewesen.
Moderatorin (27:34)
Und er hat unter dem falschen Namen Dr. Sawade gearbeitet.
Johannes Warlo (27:38)
Ja hat dann in Schleswig-Holstein unter dem Namen Dr. Sawade da gearbeitet und als Gutachter für die vielen Verfahren, die er wegen Wiedergutmachung, Leistungen und so etwas. Und er war da ganz gern angesehen von den damaligen Verwaltungsstellen, weil er sehr streng urteilte und eher für Ablehnung von irgendwelchen Leistungen plädierte, als den Leuten was zusprach, geschädigt zu sein. Und da war er wohl sehr angenehm für die Behörden damals, aber trotzdem bis heute unbegreiflich, nicht wahr? Wie ein solcher Mann sich da zehn Jahre halten konnte, obwohl der Präsident des Verwaltungsgerichts und anderen Behörden, dass die wussten, wer das war. Und die Frau Heyde hat da eines Tages groß getourt in ihrem Kränzchen Kreis von den damaligen Damen, dass ihr Dr. Heyde nicht nur ein einfacher Doktor sei, sondern ein Professor und so weiter. Und sie wünschte auch so entsprechend behandelt zu werden.
Moderatorin (28:45)
Und irgendwann ist er aber aufgeflogen.
Johannes Warlo (28:48)
Ja, das kam daher. Das ist auch typisch, nicht wahr? Es gab einen Streit zwischen Professoren. Niemand hat sich so gern bekämpft gegenseitig wie die Professoren. Das galt bei der Juristerei genau dasselbe. Es waren so interne Streitigkeiten, und da hat einer verlauten lassen und hat gesagt „Das ist der und der und das gebe ich weiter“ und das hat sich dann herumgesprochen. Und da merkte der Heyde, dass er nicht mehr so sicher war und dass da ein etwas legales Leben gab und gewesen, wo er dann plötzlich versuchte, Leute, die ihm günstig Zeugnis auszustellen und so weiter. Am Schluss hatte er das nicht mehr erreichen können. Aber das ist eine Sache für sich und im Einzelnen weiß ich das heute auch nicht mehr so.
Moderatorin (29:35)
Aber es kam ja nie zum Prozess von Heyde.
Johannes Warlo (29:37)
Ja, aber Heyde ist dann hier verhaftet worden und war auch einige Zeit in Untersuchungshaft. Und da wurde von Generalstaatsanwalt Bauer oder unter seiner Leitung, wurde ein offizielles Verfahren gegen diese vier Personen Heyde, Hefelmann, Tillmann und Bohne gemacht. Der Bohne war damals in Südamerika, der wurde ausgeliefert, glaube ich. Die anderen waren auch zeitweise in Haft, aber nachher ist der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden. Der Einzige, der eigentlich in Haft blieb, das war der Heyde. Und dem erfolgte, dass Bohne sich wieder nach Südamerika absetzte und der andere sich da ein paar Tage vor dem Prozessbeginn aus dem Fenster eines Hochhauses stürzte. Dann blieb nur noch der Hefelmann übrig. Und Heyde hat dann Selbstmord begangen. Auch das ist etwas merkwürdig gewesen, denn von seinem Verteidiger wurde angedeutet, einen Prozess gegen Heyde würde es nicht geben. Man fragt sich also, wie weit der Verteidiger sich damals mit dem Heyde abgesprochen hätte, was passiert, wenn.
Moderatorin (30:49)
Was wäre denn das Ergebnis gewesen? Also, was für ein Urteil, wenn jetzt nicht die Suizide erfolgten.
Johannes Warlo (30:53)
Ja, das ist ein gewisses Problem gewesen. Unser Strafgesetzbuch ausgerichtet worden als Einzeltäter oder auch mal für Bandenmitglieder, aber im Grunde genommen individuelle Taten und individuelle Schuld. Und das war ja mal etwas Außergewöhnliches, dass der Staat beziehungsweise die herrschende Partei damals diese Sachen forcierte und eigentlich die Verantwortung dafür hatte. Und das war auch ein gewisses Problem und darauf war unser Strafgesetzbuch nicht gemünzt. Wir hatten damals Kontrollratgesetze. Da war ein Kontrollratgesetz Nummer 10, war das glaube ich, das eben diese Verbrechen da vorsah mit Strafe. Aber als der Bundesgerichtshof gegründet wurde, da bestand man auf deutscher Seite darauf, dass dieses Kontrollratgesetz außer Kraft gesetzt würde. Und da hatten wir wieder dieses alte Strafgesetzbuch, das, wie gesagt, diese Massenmorde dem nicht adäquat war. Und das bedeutete praktisch, wenn es Mord war, gleichgültig, was man dabei getan hat. Beihilfe für Mord, dafür gab es nur eine Strafe und das war die Todesstrafe, die dann später, als das Grundgesetz in Kraft trat, in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt wurde. Aber man empfand damals, dass nicht jede Mitwirkung da gleichmäßig einfach als Mord betrachtet werden konnte, sondern dass es da gewisse Unterschiede waren. Das erklärt wohl letzten Endes auch, dass die Gerichte so ungern die Leute wegen Mittäterschaft verurteilt hätten, sondern wegen Gehilfenschaft, was natürlich auch die Sache etwas auf den Kopf stellte. Man muss zugestehen, ein Großteil dieser etwas merkwürdigen Urteile aus der heutigen Sicht viel zu milde Urteile. Der Hauptgrund war eigentlich der, dass das Strafgesetzbuch mit seiner absoluten Höchststrafe eigentlich auf diese Dinge nicht passte.