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Folge 21 (#2) – „Frankfurter Auschwitzprozess – Ein Gespräch mit Gerhard Wiese“

Gerhard Wiese war als jüngster Staatsanwalt an den Auschwitzprozessen beteiligt. Hier berichtet er über die Verhandlungen.

Moderatorin (00:00)

Zeit für Justitia – Der Justiztalk aus Hessen.

Wie waren denn die Zeugen? Also, die Zeugen müssen ja dementsprechend, wenn sie auf die Angeklagten wieder treffen, entsprechend eingeschüchtert gewesen sein. Oder wie war Ihr Eindruck?

Gerhard Wiese (00:26)

Die Zeugen waren ja nach '45 das erste Mal in Frankfurt, hörten nur Deutsch und mussten das, was sie versucht hatten im Laufe der Jahre zu verdrängen, zu vergessen, wieder hervorholen und vor Gericht aussagen. Eine nicht ganz leichte Situation. Entsprechend waren auch die Reaktionen. Der eine hat hintereinander das erzählt, was er auch bei der Vernehmung schon gesagt hatte. Andere kriegten einen Weinkrampf, da mussten wir unterbrechen. Sehr geholfen hat uns dabei die Dolmetscherin für Polnisch und Russisch, die Frau Kapkajew, die das, was die Zeugen in ihrer Heimatsprache sagten, in dem gleichen Tonfall auf Deutsch übersetzte. Das war für alle Beteiligten sehr hilfreich und sie hat auch sonst den Zeugen Mut zugesprochen. Und dann ging das Geschehen weiter. Ich werde immer gefragt „Ist Ihnen eine Zeugenaussage besonders in Erinnerung geblieben?“ und da kann ich sagen „Ja“. Das ist die Zeugenaussage des Zeugen Dr. Berner aus Israel. Berner war Arzt in Rumänien und als die rumänischen Juden nach Auschwitz transportiert wurden, war er mit seiner Familie, Frau und zwei Kindern dabei. Auf der Rampe das übliche Prozedere: Häftlinge raus, aufstellen, Männer links, Frauen rechts mit Kindern. Ein Häftlingskommando räumte die Waggons vom Gepäck und dann rückte die Kolonne langsam vor zu dem SS-Offizier – die Entscheidung traf Gas oder Lager.

Und Dr. Berner sieht nach vorne und erkennt einen SS-Mann, der da die Entscheidung trifft. Er geht auf ihn zu. „Herr Offizier, ich bin mit meiner Familie hier, wir kennen uns. Können Sie dafür sorgen, dass ich, meine Frau und meine beiden Zwillinge ins Lager kommen?“ Der SS-Mann hört „Zwillinge", bringt die Zwillinge her. Dann ist er mit den beiden Zwillingen zu Mengele gegangen, die auch auf der Rampe Dienst taten und gleichzeitig im Lager Forschungen an Zwillingen und anderen Menschen vornahm. Mengele sieht die Kinder. Eine Handbewegung - weg. Damit war das Schicksal besiegelt. Frau und Kinder kamen ins Gas. Er, als Häftlingsarzt, ins Lager und hat dort versucht, mit den bescheidenen Möglichkeiten seinen Mithäftlingen zu helfen. Warum ist er auf den SS-Mann zugegangen? Das war der Lagerapotheker Apothesius, der als Pharmavertreter in Rumänien vor dem Krieg unterwegs war, um den einzelnen Ärzten seine Produkte anzubieten und zu verkaufen. Dr. Berner hatte sogar die Visitenkarte vom Kapesius noch bei sich.

Moderatorin (03:56)

Also, er kannte ihn?

Gerhard Wiese (03:57)

Er kannte ihn. Nach der Aussage von Dr. Berner war es im Sitzungssaal mäuschenstill. Und es dauerte eine ganze Weile, bis der normale, leichte Geräuschspiegel, der normal in einem so großen Saal ist, sich wieder einstellte. Eine sehr bedrückende Aussage, die allen also…

Moderatorin (04:27)

…unter die Haut ging.

Gerhard Wiese (04:29)

Sehr nahe gegangen sind, ohne Frage.

Moderatorin (04:30)

Aber wie sind Sie denn damit umgegangen? Oder wie haben Sie denn das, was Sie dort gehört haben, von den Zeugen verarbeitet? Das kann man ja nicht einfach zu Hause ablegen. Haben Sie mit Ihrer Familie dann darüber gesprochen?

Gerhard Wiese (04:49)

Mit meiner Frau kurz, ja. Meine Frau war auch dreimal als Zuhörerin da. Ich gebe zu und habe das auch immer gern wiederholt; ich war eigentlich froh, wenn ich aus dem Büro oder dann später aus dem Sitzungssaal herauskam und in der überfüllten Straßenbahn nach Hause fuhr. Also das normale Leben wieder um mich herum war. Natürlich hat einen das schon beschäftigt, aber der Mensch ist nun mal so gebaut, dass er gewisse Dinge dann als normal empfindet. Das schleift sich irgendwie ab. Und so war das bei uns auch. Das kann man nicht auf... da geht ein inneres Schutzschild runter und bis hierhin und nicht weiter.

Moderatorin (05:42)

Und wie haben Sie die Reaktion der Angeklagten erlebt? Haben die Reue gezeigt oder irgendeine Emotionalität?

Gerhard Wiese (05:49)

Die Angeklagten konnten nicht bestreiten, dass sie in Auschwitz waren. Dafür gab es entsprechende Dokumente. Befragt kam natürlich von allen „Nein, habe ich nicht gemacht, war ich nicht. Verwechslung, war ich gar nicht im Lager, war ich auf Urlaub“ und so weiter. Aber die Zeugen wussten doch recht genau, was sie gesehen hatten. Beispielsweise Boger: Boger war Untersuchungsführer der politischen Abteilung und hatte die Zeugen zu vernehmen. Wenn der Zeuge nicht das sagte oder der Häftling nicht das sage, was Boger hören wollte, wurde er geschlagen. Nachgefragt – wieder nicht. dann kam er auf die sogenannte Boger-Schaukel, eine Stange. Da wurde er mit den Kniekehlen drüber gehängt und auf den Leib geschlagen. Schwer verletzt oder tot blieben sie dann liegen. Und dann kommt natürlich sofort die Frage „Ja, woher wisst ihr das?“. Das wurde doch nicht öffentlich gemacht, sondern im stillen Kämmerlein. Im Nebenzimmer saßen Häftlingsfrauen, die für die politische Abteilung Schriftverkehr erledigten. Und die sahen natürlich, wenn die Vernehmung vorbei war, was Boger angerichtet hatte. Wir hatten mindestens drei Zeugen, die diese Häftlingsarbeit, die Schreibarbeiten, gemacht hatten, und die haben uns das ganz klar bestätigt. Im Sommer 1964 stellte Rechtsanwalt Ormond als Nebenklägervertreter den Antrag „Ortsbesichtigung in Auschwitz". Uff.

Zwischen Warschau und Berlin, genauer gesagt Bonn, gab es damals keine diplomatischen Beziehungen. Wie soll das gehen? Polen war natürlich sehr interessiert. Nachdem das Gericht beschlossen hatte, die Ortsbesichtigung zu machen, verhandelten der Vorsitzende und der Professor Sehn mit dem Auswärtigen Amt und mit dem Justizministerium. Dabei kam heraus, ein Vertrag Sui Generis zwischen Bonn und Warschau. Selbstverständlich Ortsbesichtigung. Freie Anreise, freies Geleit und so weiter und so weiter. Gut, das war geschafft. Aber wie kommst du im Sommer oder Herbst '64 nach Warschau? Zugverbindung durch die DDR gab es nicht. Also blieb nur das Flugzeug, entweder über Kopenhagen oder über Wien. Wir entschlossen uns über Wien. Am 1. Dezember 1964 versuchte eine Reisegruppe von etwa 50 Personen, die überwiegende Zahl natürlich Reporter, der Richter, der die Ortsbesichtigung durchführen sollte, zwei Staatsanwälte und Verteidiger, soweit sie wollten, und ein Angeklagter, der auf freiem Fuß war. Inhaftierte Angeklagte dürfen nicht zur Ortsbesichtigung. Steht in der Strafprozessordnung. Das begann schon damit, dass die Maschine, die uns, aus Wien kommend, abholen sollte, in Frankfurt wegen schlechten Wetters nicht landen konnte. Was tun? Nun muss man wissen, dass damals nach der Strafprozessordnung die Hauptverhandlung nur einmal für zehn Tage unterbrochen werden durfte.

Heute ist das ganz anders, viel großzügiger. Wir waren also unter einem gewissen Zeitdruck. Also hat man die Reisegruppe in zwei Busse verpackt und nach Stuttgart gebracht. Die Maschine ist dann doch in Frankfurt gelandet, musste in Stuttgart zwischenlanden. Wir wurden eingeladen und waren abends gegen elf in Wien. Der Anschlussflug nach Warschau war weg. Der nächste Tag – ein Sonntag. Keine Flugverbindung nach Warschau.

Ich fungierte so ein bisschen als Reise-Marschall. Und dann habe ich Richter Hotz vorgeschlagen, wir sprechen mal mit dem AUA - Austrian-Airlines-Mann -, welche Möglichkeit wir haben. Der: „Natürlich, ich werde also ein Flugzeug starten. Das kostet 10.000 D-Mark und die Flugscheine.“ Dann flogen wir bei schönstem Wetter nach Warschau, wurden dort von Professor Sehn in Empfang genommen, in Bussen nach Krakau gebracht, Quartier bezogen und Montag um sieben Uhr fuhren die beiden Busse nach Auschwitz.

Dort begrüßte uns Professor Sehn. Offiziell auf Polnisch und schloss mit den Worten – es ist bei mir immer noch im Hinterohr – „Richter Hotz, walten Sie Ihres Amtes.“. Dann haben wir das gemacht, was bei Zeugenaussagen etwas zweifelhaft geblieben war. Überprüft. Konnte er das sehen? Konnte das hören? Und so weiter. Und ein Meter in Auschwitz ist ein Meter in Frankfurt, also, da gab es nicht dran zu rütteln.

Moderatorin (11:19)

Wie war das denn für Sie, an diesem schrecklichen Ort zu sein, und auch für die anderen Beteiligten?

Gerhard Wiese (11:24)

Der Doktor Großmann und Kügler, die waren schon in Auschwitz gewesen. Ich war Neuling. Es war schon für mich beeindruckend, wie dicht die alten österreichischen Kasernenbauten standen, wo man überall was sehen konnte. Und das große Lager Birkenau, vom riesigen Ausmaß eingeteilt für Frauen, für Schwule und so weiter, das ist beeindruckend, wenn auch von den Lagerbaracken jetzt nur noch die Schornsteine standen. Alles andere war in der Zeit zerfallen.

Moderatorin (12:04)

Und konnten denn die Zeugen aussagen, wenn Sie sagen, Sie wollten diese überprüfen? Das ist Ihnen dann auch gelungen?

Gerhard Wiese (12:11)

Ja, das ist auch gelungen. Und die Anwälte, die das, ich sage es mal etwas boshaft, das Ganze so als Betriebsausflug angesehen hatten, wurden immer nachdenklicher und ruhiger. Ebenfalls beeindruckt von dem, was sie vor sich sahen. Okay, das war erledigt. Der Rückflug – kein Problem. Nur, dass wir nicht in Frankfurt, sondern in Köln landeten und dann mit einer Super Constellation, die in Frankfurt landen konnte, zurückgebracht wurden.

Im Januar wurde das Protokoll über die Ortsbesichtigung verlesen und damit zum Gegenstand der Verhandlung gemacht. Das Ganze zog sich dann noch eine Weile hin. Es kamen die Entlastungszeugen, die entlasten sollten, aber doch in der Mehrzahl nichts Entscheidendes dazu beitragen konnten. Und dann sollte die Beweisaufnahme geschlossen werden und die Schlussvorträge gehalten werden. Und vorher hatten wir, die Staatsanwälte, und Bauer besprochen, dass wir beantragen, die Angeklagten darauf hinzuweisen, dass sie auch wegen Beihilfe, alle wegen Beihilfe, bestraft werden können. Denn Auschwitz mit seinen Nebenlagern musste man als eine Einheit ansehen. Und jeder, der dabei war, hat auf irgendeine Weise zu dem Ablauf des Geschehens beigetragen. Den Antrag habe ich dann viel auf mich gestellt. Das Schwurgericht war gar nicht begeistert, musste aber die Belehrung erteilen. Und dann kam das Urteil.

Moderatorin (14:04)

Herr Wiese, mich würde noch interessieren, wie dieser Prozess von den Medien aufgenommen wurde und auch von der Bevölkerung wahrgenommen wurde. Denn dieser war ja tatsächlich ein Prozess, der von aller Welt sicherlich viel beachtet worden ist.

Gerhard Wiese (14:23)

Pressevertreter waren vom ersten Tag an dabei, insbesondere Bernd Naumann von der FAZ, der über jeden Verhandlungstag ausführlich berichtet hat, und zwar im Hauptteil der FAZ, und nachdem der Prozess beendet war, seine Berichterstattung zu einem Buch zusammengeführt hat, das heute noch zu haben ist. Er hat mich gebeten, Korrektur zu lesen. Habe ich gern gemacht. Dann ist er nach Südamerika gegangen und leider zwei Jahre später bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Die Zuschauerbänke waren immer voll besetzt, sei es von Zivilpersonen oder sei es von Schulklassen. Wir hätten gern mit den Schulklassen – das ist ja auch so ein Lotteriespiel. Es wird vorausgesetzt, dass der Lehrer die Dinge vorher mal bespricht. Hatten wir keinen Einfluss drauf. Und dann kommt er. Wenn Sie Glück haben, hören Sie eine interessante Zeugenaussage. Wenn Sie Pech haben, werden nur Dokumente verlesen.

Das ist nun mal so. Wir haben in den relativ kurzen Pausen versucht, im Vorraum Fragen der Schüler zu beantworten oder Erklärungen abzugeben, was ihnen vielleicht nicht so geläufig ist. Ja, also das Interesse war schon da, auch internationale Presse, wenn ich irgendwo einen Vortrag halte. Ich war auch mit der Schule da. Frau Wieczorek-Zeul kam auf mich zu und sagte: „Ach, endlich lerne ich Sie kennen.“ und so weiter.

Andere auch. Der Weiss war da, Peter Weiss. Mehr ging eigentlich in den Raum gar nicht rein. Das war eigentlich immer besetzt.

Moderatorin (16:19)

Also das Interesse war groß, das ist klar.

Gerhard Wiese (16:22)

Ja.

Moderatorin (16:23)

Nun wurde am 19. und 20. August das Urteil verkündet. Die Staatsanwaltschaft hat also 700 Blätter umfassende Beweis Sammlung vorgelegt. 252 Zeugen wurden vernommen. Die Ermittler legten 17 Bände und weitere Dokumente, Lagerpläne, Fotos vor. Und gegen 22 Beschuldigte wurde Mordanklage erhoben. Herr Wiese, wie haben Sie denn dieses Urteil, diese Urteilsverkündung aufgenommen? Und waren Sie denn mit der Entscheidung zufrieden?

Gerhard Wiese (16:59)

Vorausgeschickt, das Schwurgericht hat sich unserer Auffassung von der Einheit des Lagers und so weiter nicht angeschlossen, sondern hat ganz streng nach Schuldstrafrecht geurteilt. Was hat er gemacht? Können wir das beweisen? Wird er verurteilt? Können wir es nicht beweise? Wird er frei? Deswegen waren auch zwei oder drei Freisprüche dabei. Warum, kann ich gerne erläutern. Ansonsten reichlich lebenslange zeitige Strafen für Capesius, der acht Jahre Zuchthaus bekommen hatte.

Hätte ich mir gern mehr gewünscht. Ein ziemlich fieser Charakter in Göppingen. Einen Apotheker und ein Kosmetiksalon. Er war auch dafür verantwortlich, dass das Gold, das Zahngold, das man den Toten ausgebrochen hatte, nach Berlin kam. Wir waren der Meinung, dass da immer was bei ihm hängen geblieben ist, aber es war nicht nachzuweisen. Das ist leider so. Wir hätten uns mehr gewünscht. Aber gut.

Moderatorin (18:20)

Genau. Es gab sechs Angeklagte zu lebenslanger Zuchthausstrafe und drei Freisprüche wegen Mangels an Beweisen.

Gerhard Wiese (18:29)

Und warum? Es gab drei Lagerzahnärzte. Und als im Frühjahr '44 die Ungarn Transporte einsetzten, Eichmann war aus Berlin extra nach Budapest gekommen, um diese Aktion zu leiten, rollten die Transporte Tag und Nacht an. 400.000 in etwa vier Wochen. Das waren so viel, dass die Gaskammern nicht nachkommen konnten. Und ein Teil dieser Häftlinge in Birkenau in einem Nebenteil untergebracht werden mussten.

Es gab, da waren wir alle vier völlig einer Meinung, die Pflicht für jeden SS-Offizier, Dienst auf der Rampe zu machen. Dazu gehörten auch die Zahnärzte. Einer davon wurde bei dieser Tätigkeit auf der Rampe von einem Häftling beobachtet, der als Häftlingskommando auf der Rampe zu tun hatte. Bei den anderen beiden nicht. Da ist der eine verurteilt worden und die anderen beiden freigesprochen.

Moderatorin (19:42)

Wie haben denn die Angeklagten auf das Urteil reagiert? Also insbesondere die, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden?

Gerhard Wiese (19:50)

Die Reaktion war -

Moderatorin (19:52)

Gab es irgendwann mal ein Anzeichen von Reue?

Gerhard Wiese (19:54)

Nein.

Moderatorin (19:55)

Gar nicht?

Gerhard Wiese (19:56)

Nein, gar nicht. Nein, leider nicht. Wir hatten immer gehofft, dass einer wenigstens den Mut hat, da was zu sagen. Aber es ging nicht. Und dann wurde Revision eingelegt, sowohl von den Angeklagten als auch von uns. Meine beiden Kollegen Vogel und Kügler haben mich verlassen. Vogel ging an die Heimatbehörde Darmstadt zurück. Kügler wurde Anwalt. Ich habe also das Verfahren bis zur Rechtskraft dann alleine betreut. Das Revisionsverfahren ist etwas umständlich. Man muss also zu den Vorwürfen der Revisionsschrift zuerst die Urteilsseite zitieren. Aber alles geschafft. Dann habe ich die Akten nach Karlsruhe gebracht, mit dem zuständigen Bundesanwalt Dr. Lange ein Gespräch geführt und versucht, ihn zu überzeugen, sich unserer Auffassung anzuschließen. Er wiegte bedenklich sein Haupt und sagte: „Das wird bei dem Senat wohl nicht gelingen.“.

Er hat recht behalten. Ich war bei der Revisionsverhandlung, also bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Bumms, aus, fertig. Ja, ich musste zweieinhalb Monate später in den zweiten Auschwitz-Prozess. Das waren drei Angeklagte, die wir gern bei den Hauptangeklagten mitgehabt hätten, denn die passten genau mit in das Bild. Die Kammer hatte gesagt „Also Leute, mit 22 ist genug.“. Also mussten wir nacharbeiten.

Dann kam noch ein Prozess, ein kleiner Nachfolgeprozess vom Ahnenerbe. Da lag zugrunde, dass die damalige Reichsuniversität Straßburg eine Skelettsammlung anlegen wollte.

Moderatorin (21:54)

Eine Skelettsammlung?

Gerhard Wiese (21:56)

Und dazu fuhren zwei, drei Beauftragte nach Auschwitz und suchten entsprechende Häftlinge aus. Die wurden über Straßburg in das KZ Natzweiler transportiert, dort vergast und kamen in die Anatomie und lagen dann in Formalin. Und so haben die Amerikaner bei der Befreiung von Straßburg sie vorgefunden. Die zuständigen Ärzte sind alle in dem ersten Verfahren verurteilt worden.

Moderatorin (22:27)

Waren Sie denn rückblickend zufrieden mit der Verhandlungsführung aller Prozesse?

Gerhard Wiese (22:35)

Ja, eigentlich.

Moderatorin (22:37)

Also würden Sie rückblickend nichts anders machen, sondern sagen „Das war schon der richtige Weg, und wir müssen“…

Gerhard Wiese (22:44)

Ja, wie soll man anders? Soll man sie alle standrechtlich erschießen? Ja, ist nicht unser Weg gewesen. Nein. Der Vorsitzende des großen Verfahrens machte das sehr gut. Ja, achtete auch auf die Form. Es gab Situationen, wo sich Kaul auf der einen Seite und Laternser, der sich so ein bisschen als Jeanne d’Arc der Anwaltschaft fühlte, lautstark beschimpft haben. Wenn dem das zu viel war, da hat er einfach den Strom abgestellt. Und dann beruhigten sich die Herren langsam wieder. Nach dem BGH-Urteil, die Sache der Strafvollzug ist Sache der Rechtspflege, ich wurde dann kurze Zeit später Abteilungsleiter und übernahm eine Abteilung mit relativ jungen Staatsanwälten. Nun hatte ich über viele Jahre nur Mord und Totschlag. Und jetzt kommt das allgemeine Leben wieder auf den Tisch. War am Anfang nicht ganz einfach. Ich sollte ihnen ja das Laufen beibringen und vor Fehler bewahren. Und dann kam ein neuer Chef. Der wollte mich näher bei sich haben, also im Zimmer gegenüber, also ein Stockwerk tiefer. Und dann waren Wahlen in Hessen und der Generalstaatsanwalt Kulenkampff wurde Staatssekretär im Innenministerium oder… Justiz? Nein, Innenministerium. Und mein Chef, Dr. Schäfer, wurde General.

Unser Vize bei dem Landgericht wurde Chef und ich wurde dann auf die letzten vier, fünf Jahre noch Vize-Chef und bin dann als '93 als Oberstaatsanwalt und Vize-Chef der Frankfurter Staatsanwaltschaft in Ruhestand gegangen. Das war aber kein richtiger Ruhestand. In den ersten Jahren schon noch, war auch ganz gut so. Meine Frau und ich hatten die hochbetagte Schwiegermutter, die 101 geworden ist, zu pflegen.

Moderatorin (24:50)

Und wenn sich die Daten „20. August: Anklage“ und „20. Dezember: Beginn der Verhandlungen“ nähern, denken Sie dann oft an diese Ereignisse zurück?

Gerhard Wiese (25:05)

Also diese markanten Tage sind schon festgeschrieben. Und dann meldete sich Roman Steinke bei mir. Er wollte eine Biographie schreiben über Fritz Bauer, wollte mich dazu befragen. Gut, wir haben lange geplaudert, und ich habe ihm auch die Geschichte mit der Gedächtniskirche erzählt. Die hat er in seinem Buch übernommen, daraus geschlossen, dass es Bauer war, der mich als dritten Mann zu Vogel und Kügler stellte.

Moderatorin (25:38)

Aber das wissen Sie bis heute nicht, wie es war?

Gerhard Wiese (25:40)

Das weiß ich nicht. Eröffnet hat es mir mein Behördenleiter. Ob Bauer dahintersteckte, weiß ich nicht. Aber gut, das wird nie geklärt werden. Alle Beteiligten sind abgetreten. Ist so. Ja, und dann kam der Film „Labyrinth des Schweigens“. Wir hörten davon, dass in München ein Film über den Auschwitz Prozess gedreht wurde. Das geht doch gar nicht. Wie soll das sein? Dann merkten wir, dass das nicht das Verfahren als solches, sondern nur die Vorbereitung dazu war.

Moderatorin (26:18)

2014 war das.

Gerhard Wiese (26:19)

…war die Premiere. Ja, und vorher meldeten sich bei mir die beiden Produzenten, der Regisseur und der Hauptdarsteller: „Wir würden gern mit Ihnen sprechen.“. Also, die kamen nach Frankfurt. Der Hauptdarsteller wollte jede Einzelheit wissen. Die Filmaufnahmen waren für Hessen und kam dazu in der Szene, wo etwa 20 Staatsanwälte um einen Tisch sitzen, sich besprechen und dann kommt der General dazu, dargestellt von Peter Groß.

Moderatorin (26:52)

Also haben Sie auch mal in die Schauspielkarriere reingeschnuppert?

Gerhard Wiese (26:55)

Nicht nur das. Ich durfte sogar mitspielen.

Moderatorin (27:00)

Ja, ja, sie waren, glaube ich, auch, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, bei der Premiere 2014 dabei. Richtig?

Gerhard Wiese (27:06)

Das ist richtig. Woher wissen Sie das?

Moderatorin (27:10)

Gute Vorarbeit geleistet.

Gerhard Wiese (27:12)

Am letzten Drehtag in Frankfurt, da werde ich vorne in die erste Reihe geschoben. Und das Schlussbild dann: Die Tür geht auf. Zwei große, mindestens 1,80 – 1,85 Staatsanwälte, Johann von Bülow, und daneben steht ein kleiner Mann mit Hut.

Moderatorin (27:32)

Das sind Sie.

Gerhard Wiese (27:32)

Das bin ich. Ja. Ich habe mich beim ersten Mal überhaupt nicht erkannt.

Moderatorin (27:38)

Herr Wiese, Sie sind nun einer der letzten Zeitzeugen des Auschwitz-Prozesses und ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen, dass Sie uns diese beeindruckenden Ausführungen gemacht haben und uns mitgenommen haben in eine Zeit, die sich hoffentlich niemals wiederholen wird. Ich bedanke mich ganz herzlich, dass Sie sich heute den Fragen gestellt haben und unseren Zuhörerinnen und Zuhörern Ihre Perspektive geschildert haben.

Vielen Dank, Herr Wiese. Alles Gute für Sie.

Gerhard Wiese (28:09)

Gern geschehen. Danke.

Outro (28:12)

Zeit für Justitia – Der Justiztalk aus Hessen.